Verletzlichkeit

 

 Kann denn eine Frau ihr Kindlein vergessen, eine Mutter ihren eigenen Sohn?

(Jesaja 49;15)

 

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Es gibt kaum etwas Verletzlicheres als ein Neugeborenes. Als soeben geborener Säugling warst du völlig abhängig von deiner Mutter (und in einem sehr geringen Ausmass auch von mir) Du brauchtest uns für deine Nahrung, um warm und sauber zu sein und um sicher zu schlafen. Die ersten Tage hast du hauptsächlich geschlafen, getrunken und bekamst die Windeln gewechselt.

Es gibt einige Dinge die ein Baby zum Überleben braucht. Es sind die drei Kategorien: Nahrung, Hygiene und Sicherheit. Ich illustriere dies im folgenden Diagramm.

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Grundbedürfnisse eines Kindes

 

Nahrung

Die Nahrung ist das Wichtigste. Ohne Nahrung fehlt einem Baby die Energie um warm zu bleiben, zu wachsen und sich entwickeln oder sich gegen Infektionen zu wehren. Es sind allerdings nicht nur die Kalorien die es benötigt. Ein Baby braucht auch genügend Flüssigkeit um nicht zu dehydrieren, den richtigen Mix aus Kohlenhydraten, Proteinen und Fetten als Energiezufuhr und als Bausteine für das Wachstum. Dazu Ballaststoffe um den Darm funktionsfähig zu erhalten, Vitamine und Mineralien als wichtige Spurenelemente für Knochen, Organe, das Nervensystem, das Hormonsystem und ein funktionierendes Immunsystem.

Es ist sehr erstaunlich, dass bei den Menschen, wie auch bei allen anderen Säugetieren, die Muttermilch all diese Inhaltstoffe bereit hält. Perfekt angepasst an die Bedürfnisse eines Neugeborenen. Das System ist derart fein eingestellt, dass die Muttermilch sich im Verlauf der Zeit verändert, sogar zwischen einzelnen Mahlzeiten. Erwachsene tendieren dazu die Stillzeiten so zu organisieren, dass es ihrem eigenen Tagesablauf entspricht. Wenn man Mutter und Säugling sich selbst regulieren lässt, dann pendeln sich die Fütterungszeiten so ein, dass das Baby genau die richtige Menge Milch bekommt um zu gedeihen.

Es ist eine Tatsache, dass es trotz jahrelanger Forschung und Millionen von Forschungsgeldern nicht gelungen ist, eine künstliche Milch herzustellen, die so perfekt und individuell an die Bedürfnisse des Babys angepasst ist wie Muttermilch.

 

Ueberlebenskunst

Wie ich sagte, als du geboren wurdest warst du total abhängig und verletzlich. Das ist eigentlich nicht ganz richtig. Genau vom Moment an als du geboren wurdest, hast du eine wichtige Rolle gespielt und hast sichergestellt, dass du die nötige Pflege bekamst. Du hattest wichtige Fähigkeiten, die du in diese Partnerschaft eingebracht hast.

Zuerst einmal konntest du schreien – und hast davon in vollem Umfang Gebrauch gemacht. Das war eines der Schlüsselsignale, mit denen du Hunger anzeigtest und dass du gefüttert werden wolltest. Wir haben sehr schnell gelernt, wie man darauf reagieren musste. Wenn du hungrig warst und brülltest, dann warst du durch nichts zu beruhigen als die Mutterbrust. Allerdings hast du auch gebrüllt wenn du volle Windeln hattest und dringend frische benötigtest. Auch wenn es zu kalt war oder warm, genauso wenn es dir langweilig war oder einfach etwas Zuwendung nötig hattest. Erstaunlicherweise hattest du unterschiedliche Arten zu brüllen für unterschiedliche Bedürfnisse.

Wir konnten nicht immer genau herausfinden was dir fehlte, aber deine Mutter im Speziellen, schien ein Gefühl dafür zu entwickeln was du brauchtest.

Als Zweites hattest du, was man frühkindliche Reflexe nennt. Das sind die primitiven Reflexe, die Babies haben. Als Kinderarzt staune ich über diese Reflexe und nutze sie als Werkzeug um die Entwicklung des Babies zu verstehen.

Der aussergewöhnlichste Reflex ist der Moro Reflex. Um ihn auszulösen halte ich das Baby in Rückenlage in meinen Armen. Eine Hand hält unterstützend den Kopf des Kindes. Es ist jetzt entspannt und sicher in meinen beruhigenden Armen. Ohne Warnung ziehe ich jetzt meine Hand ein paar Zentimeter weg, so dass der Kopf wegsackt (sehr vorsichtig, dass er nicht zu fest wegsackt). Dabei wird das Baby die Augen weit öffnen, die Arme zur Seite schleudern und die vorher geschlossenen Hände öffnen. Dabei wird es ein wenig wimmern und dann die Arme wieder auf die Brust zurückziehen und sich entspannen.

Der Suchreflex ist etwas weniger dramatisch. Um diesen auszulösen streichle ich nur die Wangen des Babies. Während ich dies tue, wird der Säugling seinen Kopf zu der Seite wenden auf der ich die Wange streichle. Wenn ich die andere Wange streichle, wird sich der Säugling zu dieser Seite wenden. Das ist wichtig, damit das Kind die Brustwarze der Mutter finden und saugen kann.

Dem folgt der Saugreflex, dem vermutlich stärksten Reflex. Schon bei einer leichten Berührung der Lippen (mit einem sauberen Finger) öffnet das Kind den Mund und beginnt zu saugen. Ich habe dir oft beim Trinken an der Brust deiner Mutter zugeschaut. Glaube mir Esther, du hast gesaugt als würde das Leben davon abhänge. Was es ja in Wahrheit auch tat. Einmal an die Brust angesetzt, hast du getrunken bis du gesättigt warst.

Diese Reflexe sind überlebenswichtig. Ohne sie würde das Baby verhungern. Wenn es die andere Backe hinhalten würde als Reaktion auf das Streicheln, dann wäre es nie in der Lage anzudocken und zu trinken. Wenn es warten würde, bis es alt genug ist um über Saugen nachzudenken, dann würde es das nie tun. Ausser in ein paar wenigen Fällen, in denen ein physischer Defekt vorliegt, wird der Säugling sich zur Nahrungsquelle wenden und saugen sobald sich etwas dem Mund nähert.

(Ich weiss immer noch nicht wozu der Moro Reflex dient. Vielleicht dazu, dass die Eltern ihr Neugeborenes mit Vorsicht behandeln und so gefährliche Handlungen wie das Fallenlassen des Kopfes unterlassen. Daher vielleicht dieses dramatische Erschrecken.)

Die primitiven Reflexe zeigen uns, dass der Säugling drauf angelegt ist zu überleben. Dieser Überlebenswille ist instinktiv, natürlich und bereits bei der Geburt vorhanden.

 

 

Hygiene

Als nächstes grundlegendes Bedürfnis folgt die Hygiene. Zugegeben, das ist etwas einseitiger.

Wenn ein Säugling auf die Welt kommt, ist er nass und schleimig. Bedeckt mit einer dicken, cremeartigen Substanz, genannt Vernix (Käseschmiere). Das braucht es vielleicht, um das Baby in der Gebärmutter zu schützen. Vielleicht auch als Schutzbarriere gegen Infektionen. Würde man sie allerdings belassen, so wäre sie bald selber ein Infektionsherd. Deshalb wurdest du unmittelbar nach der Geburt mit einem Tuch abgerieben (das hat gleichzeitig geholfen, um dich warm und trocken zu kriegen, doch davon später mehr).

Kurz danach wurdest du von uns gebadet. Die ersten paar Bäder waren ein wenig ein Schock für dich. Aber bald hast du dich daran gewöhnt, es sogar genossen. Ich erinnere mich daran, wie du meine wunderbare Tochter, das wunderbar warme Wasser und die Seife genossen hast, genauso wie die sanfte Massage beim Waschen. Für uns Eltern eine wundervolle Lernerfahrung.

Neben der Nahrungsaufnahme und Brüllen sind die Säuglinge wahre Meister im Ausscheiden. Was rein geht kommt auch wieder raus. Du hast also Pippi gemacht und die Windeln dick gefüllt. Wir hatten das Ganze dann zu säubern. Wenn wir das nicht taten, dann wurde deine normale Körperfunktion eine Quelle von Infektion und Unbill. Deshalb haben wir dich gefüttert und sauber gehalten.

 

Sicherheit

Als Drittes haben wir dir Sicherheit gegeben. Als kleines und verletzliches Wesen warst du vielen potentiellen Gefahren dieser feindlichen Welt ausgesetzt. Die vielleicht grösste Gefahr war die Kälte. England ist kein warmes Land, aber sogar im tropischen Klima ist Unterkühlung eine grosse Bedrohung für Neugeborene. Da ein Säugling eine viel grössere Körperoberfläche hat, im Verhältnis zum Volumen, als ein Erwachsener, verliert er relativ rasch Körperwärme. Dies vor allem über den Kopf. Dazu trägt der Umstand, dass der Säugling bei der Geburt nass ist, zusätzlich bei. Deshalb ist das Abreiben mit einem trockenen Tuch derart wichtig.

In all den Jahren als Kinderarzt in der Klinik habe ich mich amüsiert beim Betreuen von Kinderärzten in Ausbildung während Geburten. Sehr oft hatten sie grossen Respekt vor der Aufgabe, tupften den Säugling höchstens etwas ab und hatten grosse Sorge, ob das Kind wohl noch atmete. Dabei sichtlich bemüht den Säugling nicht zu verletzen und ihn nicht zu grob zu behandeln. Als ob sie mit dem konkurrieren könnten, mit dem was das Kind gerade eben im mütterlichen Geburtskanal erfahren hatte. Ich packte dann jeweils ein Tuch und zeigte ihnen wie man ein Baby abreibt, so wie man einen nassen und verschlammten Hund abreibt, der vom Spaziergang im Park heimkommt.

Ein Baby, das etwas langsam anfing zu atmen, wird mit diesem kräftigen Abrieb angeregt einen tiefen Atemzug zu nehmen und zu schreien so laut es konnte. Dabei wird eine Sauerstoffmaske völlig überflüssig.

Im Nothilfekurs lernt man das ABC der Luftwege, Atmung und des Kreislaufs. Das erste was ein künftiger Kinderarzt umlernen muss, ist das TABC für Neugeborene. Trocknen, Luftwege, Atmung und Zirkulation (DABC dry, airway, breathing, circulation)

Danach wurde die Sache einfacher, aber wir mussten dich weiterhin warm halten. Immer wenn wir das Haus verliessen wurdest du eingepackt in Jacke, Kappe und Handschuhe um die am meisten gefährdeten Körperteile zu schützen. Das alles musste dann aber wieder ausgezogen werden, sobald man wieder drinnen war. Die Gefahr der Überhitzung ist genau so gross. Überhitzung scheint in einigen Fällen von plötzlichem Kindestod (SID sudden infant death) ein Schlüsselfaktor zu sein. Es scheint, dass gewisse Babies nicht in der Lage sind ihre Körpertemperatur genügend zu regulieren und wenn sie zu sehr eingepackt sind, besteht ein erhöhtes Risiko für SID.

Neben der Temperatur gibt es noch weitere Risiken. Das einer Infektionsübertragung durch uns,   andere Leute oder durch die Umwelt.

Daher die Notwendigkeit dich sauber zu halten und auch den Schutz mittels gesunder Ernährung und Impfungen. Es galt zu reagieren, wenn du dich unwohl fühltest.

Du selber hast viel mehr dazu beigetragen als wir das konnten. Dein Körper hat durch seine natürlichen Abwehrmechanismen verhindert, dass Infektionen in dein System gelangen konnten und durch die Antikörper die Organismen bekämpft denen es trotzdem gelang hinein zu kommen. Am Anfang hattest du noch Antikörper deiner Mutter, die durch deinen Körper zirkulierten und die meisten Infektionen bekämpften. Diese Antikörper wurden schrittweise durch deine eigenen ersetzt. Wieder einmal ist dein Körper perfekt ausgelegt für all die Prozesse des Überlebens.

Schlussendlich war da auch noch die Verletzungsgefahr. Du hattest ja zu Beginn keinerlei Möglichkeiten, dich selber vor einer Verletzung zu schützen, genau so wenig wie du die Möglichkeit hattest, dich selber in Gefahr zu begeben. In den ersten Wochen war die Verletzungsgefahr relativ gering und die Verantwortung für deinen Schutz zu sorgen, lag voll und ganz in den Händen deiner Mutter und mir. Wir haben dich jeweils sehr vorsichtig aufgenommen und abgelegt und ganz speziell auf deinen Kopf geachtet, der grössenmässig dein Gehirn aufnehmen muss und auch sehr schwer ist. Zu diesem frühen Zeitpunkt waren deine Nackenmuskeln noch nicht stark genug um den Kopf zu halten, deshalb mussten wir ihn sorgfältig stützen.

Es ist staunenswert, wie bei der Entwicklung eines Kindes alles passt. Während dem du an Kraft und Fähigkeiten deinen Kopf zu heben zulegtest, so haben sich auch die Muskeln entwickelt um deinen Kopf und Körper zu schützen. Noch erstaunlicher ist, dass du neue Reflexe entwickelt hast – die Schutzreflexe. Doch davon später mehr.

 

 

Gott als nährende Mutter

Wenn wir über die Verletzlichkeit und über die grundlegenden Bedürfnisse eines Säuglings nachdenken, dann erkennen wir was es bedeutet „von neuem geboren werden“ und „ werden wie die Kinder“.

Wenn ich Jesus richtig verstanden habe, dann sollen wir unsere Abhängigkeit erkennen, von ihm und von anderen Menschen, um das Königreich Gottes zu sehen. Wie ein Neugeborenes brauchen wir Nahrung. Es ist sehr interessant wie die Bibel dieses Konzept in grosser Tiefe aufzeigt. Daran wie Gott Adam und Eva Nahrung bereitstellt im Garten Eden. Wie Jahweh die Israeliten in der Wüste mit Manna versorgt. In vielen Psalmen und den Propheten wird darauf hingewiesen, dass Gott sein Volk ernährt, bis hin zu Jesus, der eine grosse Menschenmenge speiste und selber versucht wurde durch Brot in der Wüste. Es scheint, dass Gott Nahrung als Hinweis brauchte auf seine Fürsorge. Und Gott ist treu zu denjenigen die sich auf ihn verlassen.

Im Zusammenhang mit Ernähren kommen wir zu einem tiefen Verständnis von Gottes Wesen. Viel von unserem christlichen Verständnis von Gott ist verbunden mit männlichen Pronomen und Bildern: Vater, Herr, Meister und König. Dennoch sagt die Bibel, die Schöpfung ja selbst unsere eigene Erfahrung, dass Gott der Allmächtige weit grösser ist als jegliche Begrenzung durch unsere Kultur und Sprache. Wenn Gott alles als Ebenbild geschaffen hat – männlich und weiblich – dann ist Gott männlich und weiblich. Alles Gute umfassend – männlich und weiblich.

In einem wundervollen Vers braucht der Prophet Jesaja das Bild der stillenden Mutter: „ Kann eine Mutter ihr Kindlein an ihrer Brust vergessen und kein Mitleid haben mit ihrem erstgeborenen Sohn?“

So unmöglich dies scheint, hier braucht Jesaja dies um als Gegensatz Gottes unverrückbare Liebe zu beschreiben. „ Sie vermag wohl ihn zu vergessen, doch ich will dich niemals vergessen! Siehe ich habe dich in meine Handfläche eingezeichnet, deine Mauern habe ich immer vor Augen.“(Jesaja 49:15,16)

Dieses Bild von Gott als stillender Mutter ist so kraftvoll, dass es all die Stereotypen eines rächenden, strengen, omnipotenten und unnahbaren Gottes aufbricht. Stattdessen offenbart sich uns eine andere Seite von Gottes Charakter – zart, leidenschaftlich, sorgend und verletzlich. Es lädt uns auf eine völlig andere Weise dazu ein, uns Gott zu nähern. Wir kommen zu ihm, nicht so sehr als armselige Sünder, die sich unter sein Urteil beugen und Busse tun müssen. Wir sind vielmehr geliebte Kinder, die eingeladen sind in „ihrem“ Schoss zu kuscheln, in „ihren“ Armen geborgen zu sein und von „ihrer“ Liebe eingehüllt zu werden.   Eine stillende Mutter stellt keine Anforderungen an ihr Baby. Sie nimmt es in ihre Arme und liebt und schätzt es.

 

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Kann eine Mutter ihr Kindlein an ihrer Brust vergessen ?

 

Dies ist eine Herausforderung; es fordert uns heraus unsere Vorstellung, wer Gott ist und was Gott ist, zu ändern. Wir sind weiter herausgefordert in unserem Zugang zu Gott. Können wir uns ihm nähern als verletzliche Neugeborene? Sind wir bereit unseren Stolz wegzulegen und uns in „ihre“ liebende Umarmung zu begeben? Wenn wir das können, kleine Kinder werden können, dann erleben wir das Versprechen von Gottes zärtlichen, umfassenden und beständigen Liebe.